Für ein durchlässiges Bildungssystem während des ganzen Berufslebens
Was früher normal war wird immer unüblicher und durch die bevorstehenden Änderungen im Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung für viele unmöglich: Dass jemand bis zur Rente im zuerst erlernten Beruf bleibt. Doch für viele Arbeitnehmende stehen im zweiten Bildungsweg nahezu unüberwindbare Hürden im Weg, welche wir dringend beseitigen müssen.
Nach meiner Lehre als Biologielaborant holte ich während 3.5 Jahren an der Maturitätsschule für Berufstätige meinen Maturabschluss nach. Während dieser Zeit hatte ich neben meinem 100% Arbeitspensum jeden Abend bis 21 oder 22 Uhr Unterricht. Danach brauchte ich erst einmal 2 Jahre Pause von der Weiterbildung und genoss meine Feierabende. 2013 fing ich mit meinem Studium der Biogeographie und Umweltgeowissenschaften an, wofür ich mein Arbeitspensum auf 80% reduzierte. 2017 hatte ich meinen Bachelor, seit Januar 2019 meinen Masterabschluss und seit diesem Mai doktoriere ich in Pflanzenphysiologie und Biogeochemie.
Dass ich während meiner gesamten neun jährigen Weiterbildung mindestens 80% als Biologielaborant gearbeitet habe spricht jedoch nicht für, sondern gegen unser heutiges Bildungssystem. Ich konnte dies nur machen, weil ich meine Arbeitszeiten extrem flexibel einteilen und um das Studium herum bauen konnte. Dies hatte zur Folge, dass ich öfters zwischen 7 Uhr am Morgen und 22 Uhr am Abend zwischen Arbeit und Studium hin und her wechselte. Dadurch war im Dauerstress, gereizt, fühlte mich vor allem gegen Ende der Semester öfters depressiv, hatte zu vielen Freunden und Freundinnen den Kontakt verloren und für meine Beziehung war dies auch alles andere als eine förderliche Situation. Da ich keine Familie habe, war dies alles zwar irgendwie zu überstehen, über kurz oder lang war diese Situation jedoch weder für die physische noch für die psychische Gesundheit gut. Menschen mit einer Familie, einer angeschlagenen Gesundheit oder ab einem gewissen Alter können so eine Weiterbildung noch viel weniger durchstehen.
Schon heute finden viele Menschen über Jahre hinweg keine Arbeit, weil ihre erlernten Berufe wegrationalisiert wurden. Oder jemand entwickelt über die Jahre eine Allergie, sonstige gesundheitliche Probleme oder will sich aus anderen persönlichen Gründen umorientieren. Dies ist aus den geschilderten Gründen für viele jedoch ein Ding der Unmöglichkeit und sie rutschen in die IV oder in die Sozialhilfe ab. Mit der uns bevorstehenden Digitalisierung und Robotisierung werden in den nächsten 10 bis 20 Jahren viele Stellen in den klassischen Berufsgruppen verschwinden, auch solche, die bis vor kurzem als sicher galten.
Ein wichtiger Teil der Lösung wäre, dass wir alle während unserem gesamten Berufsleben die Möglichkeit erhalten, Umschulungen und Weiterbildungen problemlos machen zu können. Dafür müsste erst einmal das Stipendienwesen angepasst werden. Heute müsste man erst Arbeitslos werden, damit der Antrag auf Stipendien Erfolg haben kann – dies dauert aber einige Zeit und unter Umständen wird der Antrag abgelehnt, so dass man vor dem Nichts steht. Was für Einzelpersonen mit einer guten Erstausbildung noch irgendwie zu bewerkstelligen wäre, wäre für Familien oder Menschen aus schwierigen Berufsfeldern ein Fiasko. Um die Gefahr vor dem Abrutschen in die Armutsfalle zu beseitigen, müssten spezielle Stipendien für den zweiten Bildungsweg geschaffen werden. Für diese soll man sich im Voraus bewerben können und die Zusage erhalten, bevor man die Stelle kündigt. Auch Arbeitslose müssen von diesen Stipendien profitieren können, denn eine solche Weiterbildung wäre für diese ein enorm wichtiger Schritt zurück ins Berufsleben.
Die Finanzierung dafür kann einfach gesichert werden. Kurz- bis mittelfristig müssen die Steuern für Superreiche und Grossunternehmen nach den letzten beiden Unternehmenssteuerreformen angepasst werden – eine gute Möglichkeit dafür ist die 99%-Initiative der JUSO Schweiz, welche wohl bald zur Abstimmung kommt. Zudem müssen neue Steuermodelle geschaffen werden, welche beispielsweise Firmen besteuert, die ihre Angestellten durch Roboter ersetzen. Auch durch Finanztransaktions- und Vermögenssteuern könnten wir genügend Geld einnehmen, damit wir allen Menschen ein gutes und würdevolles Leben ermöglichen können. Geld ist im Überfluss vorhanden – das momentane Problem ist nur, dass es sich in den Händen einiger weniger ansammelt und der Ansatz des trickle-down erwiesenermassen nicht funktioniert. Jedoch müssen wir uns auch im Klaren sein, dass das heutige Wirtschaftssystem von Grund auf nicht noch lange funktionieren wird. Wir müssen gemeinsam neue Modelle entwickeln, bei denen die Wirtschaft nicht auf der Ausbeutung von Mensch und Umwelt beruht, sondern zum Wohle der Bevölkerung da ist und auf ein gemeinsames Weiterkommen von uns allen ausgelegt ist.